„Meine Flucht begann in…”

Mulu*, eine 45 Jahre alte, selbstbewusste, zierliche Frau aus Äthiopien, lebt seit September 2016 in Deutschland. Ihre Flucht begann als eine Reise, die für sie einen ganz anderen Namen trug. Nach Deutschland kam sie nämlich über ein Besuchsvisum, um eine Freundin wiederzusehen. Während ihres Aufenthalts hier erfuhr sie, dass sie von der äthiopischen Polizei gesucht wird. So trat der Wendepunkt ihres Lebens ganz plötzlich ein.

Äthiopien ist wie viele afrikanische Länder ein Vielvölkerstaat. Viel Zündstoff für Konflikte ergibt sich aus dem Umstand, dass den größten politischen Einfluss die ethnische Gruppierung der Tigray hat, die lediglich sechs Prozent der Bevölkerung ausmacht. Im Herbst letzten Jahres verstärken sich die Unruhen in dem Land unter den Bevölkerungsgruppen der Omoro und Amharen. Mulu erklärt mir, dass nicht nur die unfaire Bodenpolitik die Menschen auf die Straßen bewegt, sondern auch die Regierung, die oft als „harte Hand“ charakterisiert wird. Es gebe kaum unabhängige Medien im Land. Das sei auch ein Grund dafür, dass viele Menschen im Westen die Dimension der Ungerechtigkeiten in ihrer Heimat gar nicht erfassen könnten. Die Demonstrationen und Proteste werden zerschlagen. So kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und schließlich wird der Ausnahmezustand verhängt, der stetig verlängert wurde (Aufhebung des Ausnahmezustands im August 2017).  Mulu berichtet von einer Willkür, die sich vor allem in den Massenverhaftungen von Aktivisten, Journalisten und Demonstranten ausdrücke.

Sie selbst arbeitete lange in Nichtregierungsorganisationen und war schon immer politisch interessiert. An den Demonstrationen jedoch beteiligte sie sich versteckt, weshalb die polizeiliche Suche nach ihr sie so überraschte. Die Demonstranten würden sich in zahlreichen, kleinen Gruppen aufteilen, um Vertrauensverhältnisse überschaubar zu halten. In jeder dieser Gruppen ist die Herangehensweise ähnlich. Unter all den jungen Leuten war sie die erfahrenste und so half sie im Hintergrund bei der Organisation ihrer kleinen Gruppe. In Deutschland erfuhr sie, dass ihre Familie Drohungen ausgesetzt ist und dass ihr Cousin ihretwegen verhaftet wurde.

Dies ist nur ein Bruchteil ihrer Geschichte. Als Außenstehende merke ich Mulu all ihre Sorgen und Ängste, ihren Frust und ihre Verzweiflung nicht an. Sie ist freundlich, energisch und aufgeweckt. In dem Flüchtlingsheim, in dem sie lebt, ist sie ihren Freunden eine zweite Mutter geworden, die stets dafür sorgt, dass alle auch pünktlich die Deutschkurse besuchen. Gleichzeitig engagiert sie sich in der örtlichen Tafel und betreut Kleinkinder, um den Müttern eine regelmäßige und konzentriete Teilnahme an den Deutschkursen zu ermöglichen.

Das Leben als Flüchtling vergleicht sie mit dem eines unschuldig Gefangenen. Man verliere alles im Leben, vor allem aber die Kontrolle über die eigene Existenz. Sie wünscht sich sehr, dass es zu einem Regierungswechsel kommt, der das Land eint, für Gerechtigkeit, eine gute Infrastruktur, aber vor allem für Frieden und Sicherheit sorgt.

Wir wünschen Mulu noch viel Kraft, bedanken uns für das offene Gespräch und hoffen, dass sie weiterhin an ihrer energischen, mitreißenden Art festhält!

*Name wurde geändert

 

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